L. Ognois: Die Pfarrer und der Umbruch

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Titel
Die Pfarrer und der Umbruch. Reformierte Wahrnehmung und Deutung von Krieg und Nation in der Waadt und in Zürich während der Helvetik (1798–1803)


Autor(en)
Ognois, Laure
Erschienen
Münster 2009: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
216 S., Abb.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Josef Inauen, Universität Freiburg i.Ue.

Die Dissertation von Laure Ognois wurde wie diejenige von Eric Godel, welche anschliessend angezeigt werden soll, an der Universität Tübingen im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 437 «Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit» erarbeitet. Diesen hatten in den 1990er-Jahren die Professoren Dietrich Beyrau, Dieter Langewiesche und Hans-Peter Ullmann initiiert. Das Forschungsprojekt führte verschiedene Wissenschaftler und Forschungsinstitutionen aus unterschiedlichen Bereichen, Fächern – bis zur Neurologie – und Ländern zusammen. Im letzten Jahr erschien dazu der Bilanz-Band «Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung» (hg. von Georg Schild und Anton Schindling. Paderborn/München/Wien/Zürich, Schöningh, 2009). Er enthält zur Hauptsache die Beiträge der Abschlusstagung vom 11. bis 13. Dezember 2008 an der Universität Tübingen, an welcher die Ergebnisse der rund zehnjährigen Forschungsarbeit präsentiert wurden. Die 40 Seiten umfassende Gesamtbibliografie des SFB 437 deckt die eindrückliche Zahl der im Rahmen dieses Projektes erstellten Arbeiten auf. Im Zentrum des Interesses standen drei Forschungsfelder: Nation und Kriegserfahrungen; Religion und Kriegserfahrungen; Medien und Kriegserfahrungen. Professor Anton Schindling weist im Vorwort (S. 9–11) mit Nachdruck auf zwei wichtige Aspekte des Gesamtprojektes hin: einerseits auf die Entwicklung des Erfahrungsbegriffes, welcher sich nicht zuletzt dank der Tübinger Forschungen etabliert habe; dieser setze sich nämlich «bewusst vom umgangssprachlichen Verständnis ab, indem er über das persönliche Miterleben» hinausgehe und «vorgeprägte Reflexionen» mit einbeziehe; andererseits auf die beispielhafte und folgenreiche interdisziplinäre Zusammenarbeit. Ebenfalls 2008, am 8. und 9. Februar, fand im Rahmen des Teilprojektes G «Religion und Kriegserfahrung» in Tübingen eine Tagung zum Thema «Geistliche im Krieg» statt. Auch dazu erschien im letzten Jahr der Tagungsband (Franz Brendle, Anton Schindling [Hg.]: Geistliche im Krieg. Münster, Aschendorff, 2009).

Die Umbruchzeit der Helvetik betraf und veränderte alle Bereiche des politischen, sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Lebens in der Schweiz. Die Unterstellung der Kirchen unter den Staat, das laizistische Denken und die säkularen Tendenzen forderten den Widerstand breiter Kreise, von einzelnen Funktionsträgern der reformierten Kirche bis zum grossen Teil der katholischen Kirche, heraus. Der Widerstand der Alten Eidgenossenschaft wurde durch die französischen Armeen ebenso gebrochen wie jener der katholischen Innerschweizer Landsgemeindekantone, welcher sich sowohl gegen die helvetische Religionspolitik als auch gegen den Einheitsstaat richtete. Dazu kam, dass die Schweiz zwischen die Fronten der Koalitionskriege geriet; 1799 wurde sie zum Kriegsschauplatz; die innere Ordnung wurde von 1800 bis 1802 bzw. 1803 durch eine rasche Folge von Putschs und bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den radikalliberalen und den konservativen Kräften erschüttert. Laure Ognois untersucht und vergleicht die Wahrnehmung und Deutung von Krieg und Nation aus der Perspektive von konterrevolutionären (Philippe-Sirice Bridel, Georges Chatelanat, Louis de Bons) und pro-revolutionären (Benoit Gély, François-Jacques Durand, Louis Bridel, Louis Dumaine, Daniel-Alexandre Chavannes, Jacques-Louis Demiéville) reformierten Pfarrern im Kanton Waadt, welcher sich 1798 nicht zuletzt dank französischer militärischer Hilfe von Bern, dessen Untertanengebiet er seit 1536 gewesen war, lösen und befreien konnte, und von gemässigt-liberalen Pfarrern in Zürich (Antistes Johann Jakob Hess, Solomon Hess, Georg Gessner, Felix Herder, Christoph Nüscheler, Conrad von Orelli). Da die in die Untersuchung einbezogenen Pfarrer nicht direkt an Kriegen teilnahmen, sind sie für Laure Ognois vor allem als Deuter und Sinnstifter der Helvetik Untersuchungsobjekte ihrer Arbeit. In einem ersten Teil legt sie deren Deutung des Krieges (der Befreiungs- bzw. der Verteidigungskriege und des bewaffneten Widerstandes) und ihre Feind-, Freund- und Selbstbilder dar, in einem zweiten deren Nationsverständnis, wiederum aufgeteilt nach konterrevolutionärer, gemässigt-liberaler und pro-revolutionärer Wahrnehmung. Ihre Analysen und Schlussfolgerungen werden durch Zusammenfassungen am Schluss aller Kapitel und durch eine Würdigung der Ergebnisse in der Schlussbetrachtung leserfreundlich präsentiert. Hier wird noch einmal das Hauptanliegen der Studie verdeutlicht, nämlich mit einem erfahrungsgeschichtlichen Ansatz der Frage nach dem Verhältnis von strukturellem Umbruch und mentalen Entwicklungen nachzugehen. Dabei zeigen sich – natürlich – deutliche regionale Unterschiede. Ihre wichtigsten Schlussfolgerungen sind: Der situative Kontext (die Waadt, welche sich befreien musste, und der alte Stand Zürich, allerdings mit einer untertänigen Landschaft) bestimmte die Wahrnehmung des Kriegsgeschehens durch die reformierten Pfarrer; die politische Auffassung in der Waadt und die staatskirchliche Tradition in Zürich bestimmten das Nationsverständnis; sowohl die waadtländischen als auch die zürcherischen Pfarrer basierten auf christlichen Deutungsmustern des Krieges und auf einer eigenen reformierten Deutungskultur des Nationalen – Deutungsmuster und -kultur waren weitgehend während der ganzen Umbruchzeit der Helvetik gültig.

Die Dissertation von Laure Ognois zeichnet sich durch Schlankheit und einen klaren Aufbau aus. Die Straffheit hätte wohl gelitten, wenn weitere Fragen und Aspekte berücksichtigt worden wären. Doch würde man gerne wissen, wie genau die Autorin zur Zuweisung von konterrevolutionärer und pro-revolutionärer Betrachtung zur Waadt und von gemässigt-liberaler zu Zürich gekommen ist – wobei sich natürlich erste Begründungen aufdrängen. Was kann also zur Repräsentanz der betrachteten Pfarrer gesagt werden? Wünschenswert wäre es auch, wenn der Leser etwas (mehr) zum persönlichen, sozialen und theologischen Umfeld der Pfarrer erfahren würde. Ferner: Gibt es in anderen Quellen als den Predigten Aussagen und Deutungen, welche jene in den Predigten unterstützt, präzisiert oder nuanciert hätten? Und natürlich hätte man gern etwas über das Echo gehört, welches die hier betrachteten Predigten auslösten. Dem Rezensenten ist natürlich bewusst, dass diese Fragen und Wünsche weitgehend über das gewählte, überzeugende Forschungsdesign der Dissertation hinausgehen. Doch wären es Möglichkeiten gewesen, das Verständnis der erfahrungsgeschichtlichen Auslegeordnung trotz der nicht-deutschen Muttersprache der Autorin zu erleichtern.

Die Arbeit von Laure Ognois erschliesst, basierend auf einer breiten Quellengrundlage, wichtige Aspekte der Umbruchzeit in der Schweiz beim Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert; sie regt zu weiteren Studien an: in synchroner Sicht zur Wahrnehmung und Deutung von Religion, Krieg und Nation in anderen Regionen; in diachroner Sicht zur Darstellung der Entwicklung von Wahrnehmung und Deutung in und seit der Aufklärung und noch weiter in der Umbruchzeit des 19. Jahrhunderts; auch zur Deutung (oder besser: Umdeutung) der Helvetik nach 1803, welche die Autorin selbst anregt.

Zitierweise:
Josef Inauen: Rezension zu: Laure Ognois: Die Pfarrer und der Umbruch. Reformierte Wahrnehmung und Deutung von Krieg und Nation in der Waadt und in Zürich während der Helvetik (1798–1803). Münster, Aschendorff, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 3, 2010, S. 374-376.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 3, 2010, S. 374-376.

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